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Hier erscheinen mit der Zeit immer mehr Interviews mit Menschen, die zu interessanten und relevanten Themen rund um die MS arbeiten ...

Was hilft am besten gegen die MS, Frau Dr.?

Ein Interview mit der Physiotherapeutin und Wissenschafterin Dr.in Barbara Seebacher

Wie kam es dazu, dass Sie sich auf das Thema MS spezialisierten?
Das hat sich aus meiner klinischen Arbeit als Physiotherapeutin ergeben. Ich war immer schon im Bereich der neurologischen Erkrankungen tätig, da gab es auch viele MS Patient*innen. Da hat mich die Heterogenität der Erkrankung fasziniert sowie die vielfältigen Möglichkeiten, wo ich viel Potenzial in der Reha sehe.

Auf welche Weise arbeiten Sie mit MS Patient*innen?
Ich arbeite in der Forschung sowie in der Lehre, aber auch in meiner eigenen Praxis mit betroffenen Patient*innen.

Worauf liegt ihr Forschungsschwerpunkt?
Physiotherapeutische Interventionen für Menschen mit MS zu entwickeln und deren Wirksamkeit zu überprüfen.
Outcome Assessments (Anmerkung des Verf: das ist ein Instrument, ein Maß, das hilft, den Gesundheitszustand eines Patienten beurteilen) zu entwickeln und zu validieren, sowie partizipative Forschung- wo Patienten involviert sind.  Wir entwickeln auch Programme zum Beispiel für den Heimgebrauch, technologieunterstütztes Training- um zu schauen: Was brauchen denn die Patient*innen?

Gibt es da ein Herzensprojekt? 
Ja, die Entwicklung und Evaluierung musikunterstützter Bewegungstrainingsprogramme für Menschen mit MS.

Die MS gilt als die Krankheit mit den 1000 Gesichtern- so gibt es stark eingeschränkte Menschen und andere, die Ultra- Marathons laufen. Wieviel des Verlaufes würden Sie sagen, hat man als Betroffene*r selbst in der Hand? Oder anders gesagt: Ist man dem Schicksal MS ausgeliefert?
Ich bin überzeugt, dass man sehr viel in der Hand hat! Ich habe auch diese Erfahrung gemacht- auch bei Patient*innen mit schwerem Verlauf. Wenn Betroffene eine positive Einstellung hatten- nach dem Motto: „Ich pack den Stier bei den Hörnern“, wenn Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugung erlebt wurden, wenn der Mensch das Glas halb voll und nicht halb leer sieht, dann wirkt sich das stark positiv aus. Ich glaube, dass sich der Körper und die mentale Ebene nicht trennen lassen und demnach die Einstellung eine große Wirkung auf die körperliche Gesundheit hat. Ich denke auch, dass es wichtig ist, welche Einstellung ich als Professionist*in habe- diese wirkt sich dann auf meine Patient*innen aus. Ich bin ein richtiger Fan von Selbstwirksamkeit- ich sage meinen Patient*innen: „Das haben andere auch geschafft, das können Sie auch schaffen!“ Deshalb stören mich Aussagen von Ärzt*innen sehr, wenn sie meinen: „Besser wird es nicht, also schauen wir, dass es möglichst langsam schlechter wird.“ Das sehe ich anders. So stigmatisiert man Menschen, und das hat eine negative Wirkung.

Würden Sie soweit gehen- aus physiotherapeutischer Sicht zu sagen: Mit Sport, Fokus auf Stressreduktion und gesunder Ernährung kann es möglich sein, die MS zu stoppen?
Haben Sie solche Beispiele schon erlebt? 
Das wage ich nicht zu sagen, da ich keinen Einblick in das Immunsystem Betroffener habe. Aus physiotherapeutischer Perspektive kann ich beobachten, dass es Menschen mit MS gibt, die auch im hohen Alter noch völlig uneingeschränkt leben – das genügt für mich. Dabei habe ich nicht immer den Eindruck, dass all diese positiven Verläufe durch einen besonderen Augenmerk auf die von Ihnen genannten Strategien zustande gekommen sind; bei einigen ist es einfach das Resultat eines erfüllten Lebens.

Was hilft aus Ihrer Sicht MS Patient*innen?
Das ist eine große Frage- Wie viele Tage haben Sie Zeit?
Ich würde sagen: Bewegung! Aus physiotherapeutischer Sicht: Trainieren von Ausdauer, Koordination, Gleichgewicht. Dann sind psychologische, psychosoziale Aspekte wichtig: Wer tut mir gut, wer nicht- das gilt es zu optimieren. Im beruflichen Bereich die gerade richtige Herausforderung zu finden: Ich bin davon überzeugt, dass man berufstätig bleiben sollte, weil es gut tut, eine Aufgabe zu haben. Aber man sollte nach der Arbeit nie völlig erschöpft sein.
Bezüglich Medikation denke ich, dass diese optimal selektiert sein sollte: Dass man das wählt, was den größten Nutzen/Benefit hat bei möglichst geringen Nebenwirkungen. Eine individualisierte Behandlung finde ich wichtig, dann eine gute Verlaufskontrolle mit umfassender Beratung.
Bei symptomatischen Therapien gilt es, diese sinnvoll zu dosieren. Wenn man zum Beispiel Antispastika gibt und diese zu hoch dosiert, verliert der Oberkörper an Kraft. Daher würde ich mir wünschen, dass die Dosierung gewisser symptomatischer Therapien in Absprache der*s behandelnden Neurolog*in und Physiotherapeut*in erfolgt.

Früher riet man MS Patient*innen, sich nicht übermäßig anzustrengen, eher zu schonen. Einige unserer Vereinsmitglieder sind sportlich sehr aktiv. Ist es möglich, zu viel Sport zu machen?
Die Wichtigkeit von HIIT oder Krafttraining ist mittlerweile etabliert bei MS Patient*innen. Hier fehlen meiner Meinung nach aber noch validierte Messverfahren, Identifikation von Biomarkern, um das darzustellen, was wirkt.Man soll jedenfalls nicht weniger tun, weil man MS hat, jedoch dem Alter und dem Fitnesslevel entsprechend trainieren. Ich bin ein absoluter Fan von Bewegung. Sie gilt als hochwirksam gegen Fatigue und ist wirksamer als Medikation.

Ich habe im letzten Jahr Berglauf trainiert. Mein Eindruck ist, dass bei dieser Form des Laufens enorm viele Bereiche trainiert werden: Ausdauer, Kraft, Koordination, Gleichgewicht., Konzentrationsfähigkeit. Und das alles gleichzeitig. Beim  Bergab- Laufen durch anspruchsvolles Gelände fühlt es sich so an, als würde es in meinem Gehirn wahrlich ein Synapsenfeuerwerkgeben- dass mein Gehirn also in kurzer Zeit extrem viel lernt. Was sagt die Physiotherapeutin dazu? 
Ich denke auch, dass Laufen im Gelände viel zu motorischem Lernen beiträgt, aber dasselbe wurde auch bei Tanzen, Koordinationstraining, Klettern und anderen Sportarten nachgewiesen. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass man das auswählt, was einem am meisten Spaß macht. Es gibt eine Vielzahl an herausfordernden und fördernden Sportarten!

Wenn Sie selbst von MS betroffen wäre, was würden Sie für ihre Heilung tun?
Ich glaube, es ist wichtig, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man merkt, dass es einem nicht gut geht. Das würde ich tun- um erst mal zu verarbeiten, was da passiert ist.

Haben Sie innerhalb Ihrer Arbeit schon Wunder erlebt?
Ja, ich habe schon einige Wunder erlebt. Aber eines ist mir besonders stark in Erinnerung: Eine durch MS schwer beeinträchtigte Frau, die bettlägerig war, sehr spastisch, ihre Arme nicht mehr bewegen konnte und kaum mehr sprechen konnte. Ihre Schwester war Krankenschwester und hat sie immer viel bewegt. Die Frau begann, mental zu trainieren, Bewegungen zu imaginieren: Sie hat sich in ihre eigenen Körperteile hinein versetzt, hat sich vorgestellt, wie sie die Hand öffnet und wieder schließt, wie sie den Fuß bewegt…
Sie konnte ihren EDSS von 8 auf 4 verbessern! Jetzt geht sie mit 2 Stöcken täglich- aber nicht nur ein paar Meter, sondern mehrere Kilometer. Und sie „beschwert“ sich, dass ihre Schwester (die einen EDSS- Grad von 2 hat) für sie zu langsam ist.

Gibt es noch etwas Wichtiges, das Sie unseren Leser*innen mitteilen wollen?
Ich habe einige Studien mit Musik und Bewegung durchgeführt - aktuell ein Projekt mit Musik und Bewegungstraining gemeinsam mit Menschen mit MS.  Musik bewirkt ganz viel: sich zu Musik zu bewegen, einzutauchen …, man sagt ja - Mozart ist gut für das Gehirn, aber im Grunde kann jede Musik verwendet werden.

Haben Sie im Zusammenhang mit der MS schon mal ein Wunder erlebt, Herr Professor?

Ein Interview mit dem Wiener MS Spezialisten Univ.Prof.Dr. Aboulenein-Djamshidian

Seit wann beschäftigen Sie sich mit MS und wie viele MS Patient*innen haben Sie schätzungsweise seither behandelt?

Ich fing bereits im Studium an, mich besonders für Histologie und Immunologie zu interessieren und arbeitete viele Jahre während meines Studiums am Institut für Histologie und Embryologie der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Nach dem Studium fing ich auf der Abteilung für Neuroimmunologie am Institut für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien über Multiple Sklerose, aber auch anderen teils entzündlichen, teils nicht entzündlichen Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks zu forschen an und setzte anschließend meine klinische Ausbildung fort. Ich habe in mittlerweile mehr als 15 Jahren sicher mehrere tausend MS-Patientinnen und Patienten untersucht, sehr viele auch im Rahmen von Zweit-Meinungen. Derzeit befinden sich mehrere hundert MS-Patienten*innen bei mir in regelmäßiger Betreuung. 

Was fasziniert Sie an dieser Erkrankung?

„Faszinieren“ ist sicher der falsche Ausdruck. Ich will einfach wissen, was die Ursache der Multiplen Sklerose ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Lösung – also die Ursache der Multiplen Sklerose – in den Patienten*innen offen vor uns liegt, wir sie vielleicht sogar sehen, aber nicht erkennen.

Nun gibt es stark eingeschränkte Patient*innen und welche, die über Jahre kaum etwas bemerken.
An welchen Faktoren könnte das liegen?

Ich glaube, würden wir die Ursache der Multiplen Sklerose kennen, uns Vieles wie Schuppen von den Augen fallen wird. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es sich bei der Multiplen Sklerose tatsächlich nur um eine Erkrankung mit verschiedenen Verlaufsformen handelt oder ob es sich um viele Störungen oder handelt, die sich ähneln und die wir derzeit noch als die Multiple Sklerose zusammenfassen.

Leider gibt es derzeit noch keine zuverlässigen Prognose-Faktoren, jedoch einige Indikatoren, die gepaart mit der Erfahrung und regelmäßigen klinisch-neurologischen Untersuchungen eine gewisse Einschätzung der betreuenden Ärztinnen und Ärzte erlauben, aber sehr behutsam und vorsichtig vorgenommen werden müssen. Wir müssen unsere Patienten*innen aufklären, dürfen weder bagatellisieren und beschwichtigen, aber auch keine Angst machen. Wir Neurologen*innen haben unsere Patienten*innen vor allem vor „falscher Hoffnung“ und nicht-haltbaren Heilsversprechungen zu schützen. Meine Überzeugung und oberste Doktrin in der Behandlung ist, meine Patienten*innen sehr gut aufzuklären. Aufklärung heißt zu erklären, was passiert, hilft zu verstehen und schützt vor überzogenen Erwartungen und sehr oft im Internet kursierenden nicht-haltbaren Heilsversprechen. Zweitens, müssen die Patienten*innen ihre innere Mitte und Ruhe finden, ihr Leben bewusst und achtsam führen. Das ist mehr als ein paar Pillen oder Infusionen von irgendwelchen Substanzen, von denen behauptet wird, dass mit ihnen alles gut wird.

Gibt es einen „gemeinsamen Nenner“ bei den Patient*innen, die relativ uneingeschränkt leben- machen die etwas anders, als Patient*innen mit großen Einschränkungen?

Zufall oder nicht, ich habe bei viele Patienten*innen beobachten können, dass die anfänglich starke Krankheitsaktivität auf nahezu wundersame Art und Weise abnahm, als die Patienten*innen ihren Lebensstil änderten und ihre Ernährung umstellten, sich ausreichend und regelmäßig bewegten, aufhörten zu rauchen und etwaiges Übergewicht verringern konnten. Ob dies nun kausal ist oder nicht, geschadet hat es jedenfalls nicht. Und der Zufall besticht jedenfalls.

Als man mir vor 10 Jahren meine MS diagnostizierte, riet mir die Ärztin zu baldestmöglichem Beginn mit Basistherapie. Ich lehnte ab, wollte zuerst mal meine Krankheit kennen lernen und beobachten wie sie sich auswirkt.  Aus Sicht des Neurologen: War das unvernünftig?

Diese Frage kann und soll so nicht abschließend beantwortet werden, da einige Hintergrundinformationen fehlen. Wesentlich ist, dass Sie in jedem Fall Ihre klinisch-neurologischen und MRT-Routineuntersuchungen durchführen, das heißt in Betreuung Ihrer Neurologin sind, gleich ob Sie sich für eine Immuntherapie entscheiden oder nicht.

Thema Psyche und Erkrankung: Was weiß man heute über den Einfluss der Psyche auf MS?

 Mittlerweile wissen wir schon sehr viel mehr über die Verbindungen der Psyche und ihren Auswirkungen auf das Immunsystem als noch vor ein paar Jahren, aber wir kratzen immer noch an der Oberfläche. Die Verbindung zwischen Körper und Seele ist seit Jahrtausenden empirisch belegt – mens sana in corpore sano – und wird, davon bin ich überzeugt – als Psychoneuroimmunologie in den nächsten Jahrzehnten molekularbiologisch erklärt und in jedem Lehrbuch zu finden sein. Wie ich schon sagte, es ist nie falsch, zu versuchen, ein „geglücktes Leben“ zu leben (frei nach Aristotheles).  

Wenn man Dr. Google befragt, sind die allermeisten MS Patient*innen früher oder später schwer eingeschränkt. Ist das wirklich so? Oder haben wir die milden Verläufe einfach nicht am Schirm?

Ich warne stets vor eigenen Internet-Recherchen, vor allem unkritisch zu googlen oder Heilsbotschaften in diversen Internetforen oder Social Media oder Videokanälen zu glauben. Wir Menschen haben es leider geschafft, aus dem Internet auch eine der größten Müllhalden zu machen, die die Welt je gesehen hat. Viele Informationen sind nur Meinungen, großteils falsch und ungeprüft. So gut es sein kann, dass Informationen leicht verbreitet werden können, sagt dies noch nichts, aber auch gar nichts über die Güte von Informationen aus.

Niemand, vor allem ich selbst nicht, würde in ein Auto einsteigen, das ich repariert hätte, weil es schlichtweg lebensgefährlich wäre. Ich habe nämlich keine und zwar wirklich gar keine Ahnung von Autos, auch wenn ich noch so sehr daran glaube, mich auszukennen und Experte zu sein, nur weil ich ein Auto lenken darf, würde ich es nie zum laufen bringen. Bei einer Panne rufe ich auch den Notdienst meines Automobilclubs an und versuche nicht mein Auto mit einer Videoanleitung aus dem Internet selbst zu reparieren.  

Zweitens, werden jene Informationen von den Suchmaschinen im Internet vorgereiht, die oft angeklickt werden, womit das Dilemma schon erklärt wird. Wir Menschen klicken natürlich jene Beiträge häufiger an, die uns ein worst case Szenario beschreiben oder eben „wundersame Heilsbotschaften“. Milde Verläufe sind unspektakulär. Selbst wenn diese im Internet zu finden wären, würden sie kaum angeklickt und sind, wenn überhaupt, erst nach vielen Seiten in den Suchergebnissen zu finden. Meine Patienten/innen mit milden Verläufen sind aufgeklärt und haben genügend Abstand vom Internet und ihrer Diagnose. Und ja, ich spreche hier von Diagnose und nicht von Krankheit. Und „Dr. Google“ ist so sehr Doktor der Medizin wie ich Automechaniker.

MS gilt als unheilbare Krankheit- würden Sie das auch so formulieren?

Jein, da wir die Ursache der MS nicht kennen, wissen wir nicht, ob es sich tatsächlich, um eine unheilbare Erkrankung handelt, oder nicht. Gefährlich wird es aber, wenn manche – meist Quacksalber oder besonders unkritische und unreflektierte Zeitgenossen – behaupten, MS heilen zu können und falsche Hoffnung verbreiten. Unser therapeutisches Ziel muss es sein, eine lebenslange Remission der MS mit unseren Patienten/innen zu erzielen. Dazu sei gesagt, dass viele Wege zum Ziel führen können und dass wir erst nach vielen Jahren tatsächlich beurteilen können, ob wir unser Ziel – gemeinsam mit unseren Patienten/innen – erreicht haben, wenn wir zurückblicken und alles Revue passieren lassen.

Was war Ihre größte Lehre in Zusammenhang mit der MS?

Ich musste lernen, dass die „Chemie“ zwischen mir und meinen Patienten/innen unbedingt passen muss und dass ich dies auch gleich anspreche, falls ich fühle, dass die „Chemie“ – zumindest von mir aus - nicht passen sollte. Dies ist aber sehr selten der Fall.

Haben Sie in Bezug auf die MS schon mal ein „Wunder“ erlebt?

Ja. Ich werde nie vergessen, eine Patientin, die an einer erheblichen spastisch-ataktischen Gangstörung litt, unsicher ging, sich stets anhalten oder einen Stock benutzen musste, an einem Abend tanzen gesehen zu haben. Sie war anscheinend durch die Musik wie ausgewechselt und fegte förmlich mit ihrem Tanzpartner übers Parkett. Ich weiß nicht, wie die Musik dies möglich gemacht hat, nur dass dies offensichtlich durch die Musik möglich war. Jedenfalls hatte mich dieser Abend vor mittlerweile mehr als 15 Jahren schwer beeindruckt.

Was möchten Sie Ihren Patient*innen gerne mitgeben?

Dass sie keine Angst haben sollen, denn Angst ist stets ein schlechter Ratgeber und scheint – zumindest habe ich dies sehr oft beobachten können - auch den Krankheitsverlauf negativ zu beeinflussen.
Dass sie immer nach vorne blicken sollen und vielleicht etwas achtsamer und bewusster durchs Leben gehen sollen, ihre Mitte finden und ihre Energie bewahren und nicht sinnlos verschwenden….Dass sie bitte regelmäßig ihre neurologischen Untersuchungen wahrnehmen und alle Für und Wider von therapeutischen Schritten mit ihren betreuenden Neurologinnen bzw. Neurologen gut besprechen sollen, um eine gute Entscheidung fällen zu können und im Nachhinein Nichts zu bereuen.

Was bedeutet der Schlaf für unsere körperliche und psychische Gesundheit, Herr Professor?

Ein Interview mit dem Psychologen und Schlafforscher Univ.- Prof. Dr. Manuel Schabus

Lieber Manuel, Du bist Experte zum Thema Schlaf. Was ist Dein Haupt- Forschungsgebiet?

Ich arbeite vor allem an Informationsverarbeitung in veränderten Bewusstseinszuständen, d.h wie das Gehirn auch im Schlaf, im Wachkoma oder beim neugeborenen Kind funktioniert und Reize verarbeiten kann. Ganz aktuell beschäftigen wir uns auch mit digitaler Schlaftherapie. Wir versuchen die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Schlafforschung in eine Therapie-App zu gießen,  die Schlaf in nie dagewesener Genauigkeit für den normalen Nutzer täglich analysieren und darstellen kann. Evidenzbasiertes Sleep Coaching macht die App zudem, d.h. wir versuchen über wenige Wochen zu helfen wieder zum gesunden Schlaf zu finden. Man findet das unter www.nukkuaa.com oder im Internet als www.gesunderschlaf.coach 

Der Volksmund hat zum Thema Schlaf viele Sprüche auf Lager:  „Schlaf mal drüber“ ist der Rat bei starken Gefühlsausbrüchen oder wenn es schwer fällt, eine Entscheidung zu treffen. Inwiefern verarbeitet der Körper Stress während des Schafes?

Das Gehirn verarbeitet Stress tatsächlich im Schlaf. Man glaubt, dass die emotionale Färbung im Schlaf zurück geht. Tags darauf reagiert man demnach nicht mehr so emotional wie am Tag zuvor. Daher macht der Satz:  „Schlaf mal drüber“ durchaus auch wissenschaftlich Sinn. Zudem gibt es Befunde dass im Schlaf die Kreativität angetrieben wird und man „Einsicht“ in schwierige Probleme findet die man tags zuvor noch nicht lösen konnte.

Was ist gesunder Schlaf und inwiefern unterstützt er unsere körperliche und geistige Gesundheit?

Gesunder Schlaf ist was sich gesund anfühlt und auch ausreichend lange andauert. Schlaf hat z.B. die Funktion, das Immunsystem im Schlaf zu stärken, aber auch Abfallprodukte abzutransportieren (lymphatisches System) oder auch das Gedächtnis zu stärken. Psychisch wissen wir, dass es zu gehäuften Problemen mit Angststörungen und Depression kommt, wenn man regelmäßig schlecht und/oder unzureichend schläft.

Chronische Erkrankungen und Schlaf- wie hängt das zusammen?

Da gibt es viele Zusammenhänge. Z.B. sind Herz-Kreislauf Erkrankungen gehäuft bei schlechtem Schlaf, aber auch die Glukosetoleranz geht zurück und das Risiko für Adipositas steigt. Auch werden Krebserkrankungen in Zusammenhang mit chronisch unzureichendem Schlaf diskutier.

Wir schlafen rund ein Drittel unseres Lebens und doch kann ich mich nicht erinnern, dass mich bei meiner Diagnosenstellung jemand nach meiner Schlafqualität gefragt hat. Warum wird Schlaf noch immer so ausgeblendet?

Das ist eine sehr gute Frage an der wir arbeiten. Wir versuchen mit aktuellen Projekten wie NUKKUAA wirklich den Schlaf in jedes Schlafzimmer zu tragen und die Leute wachzurütteln:  Es ist unumgänglich, sich bewusst und mit Hingabe dem Schlaf zu widmen wenn man ein gesundes und zufriedenes Leben am Tag leben will. Bei unzureichend Schlaf werde ich nicht nur emotional irritierbarer, sondern auch fehleranfälliger, habe mehr Krankheitstage, bin unglücklicher, und - ja- habe ein höheres Risiko früher zu sterben.

Worauf sollten MS Patient*innen Deiner Meinung nach in Bezug auf ihren Schlaf achten?

Ich bin kein MS Experte, aber langer (mind- 7-9 Stunden) und regelmäßiger Schlaf sind ganz zentrale Aspekte für jegliche körperliche oder geistige Gesundheit. Ich bin überzeugt das viel und qualitativ guter Schlaf viel Leid von den Schultern der Menschen nehmen würde.

Kann regelmäßig versäumter Nachtschlaf (z.B. bei Nachtdiensten) überhaupt adäquat nachgeholt werden ohne gesundheitliche Folgen zu provozieren? Im Speziellen natürlich, wenn man MS zusätzlich im „Rucksack“ hat?

Naja. Man kann schon etwas Schlaf nachholen, aber immer nur einen Teil. Bei einer durchgemachten Nacht etwa wird nur ein kleiner Teil davon auch wirklich aufgeholt. Was man auch versuchen kann,  ist etwas vorzuschlafen, z.B.  mit einem 20-30 minütigem Mittagsschlaf am Tag vor einer Nachtschicht. Oft muss aber auch das Nickerchen geübt und dem Organismus bekannt sein, d.h. auch da lohnt es sich, zu trainieren und regelmäßige Nickerchen- Zeiten einzuhalten.

Ist der Schlaf vor Mitternacht wirklich so wichtig und warum?

Ist er nicht. Aber in industriellen Gesellschaften ist der ONSET am Tag fix.  Jede arbeitende Person und jeder Schüler muss um 6 oder 7h aufstehen, um rechtzeitig in Schule und Arbeit zu kommen. Man geht deswegen aber noch lange nicht früher ins Bett um trotzdem ausreichend Schlaf zu bekommen. Man könnte also an beiden Enden ansetzen. Selbst hat man wohl nur in der Hand, früher ins Bett zu gehen sodass man am Wochenende keinen Schlaf nachholen muss.

Der berühmte „Schönheitsschlaf“: Welche wichtigen Prozesse laufen in Bezug auf körperliche Reparaturprozesse während des Schlafes ab?

Gute Frage. Ich glaube nicht dass dies im Detail bekannt ist. Aber es stimmt das ausgeschlafene Personen einfach attraktiver auf andere wirken. D.h. Hautfärbung, Augenrinne, Pupillengröße und dergleichen…

Manche meiner Freude meinen, wenig Schlaf zu brauchen. Ist Schlafbedürfnis etwas Individuelles oder kann man sich Schlaf über die Jahre auch abgewöhnen?

Schlaf ist schon etwas Individuelles, trotzdem schläft der überwiegende Teil der Bevölkerung leider viel zu wenig. Sobald ich am Wochenende oder im Urlaub Schlaf nachhole, weiß ich, dass ich in der Arbeitswoche normal zu wenig Schlaf abbekomme. Die Fachgesellschaften empfehlen im Arbeitsalter 7-9 Stunden Schlaf, d.h. mindestens 7.5 Stunden Zeit im Bett, was kaum einer von uns regelmäßig schafft. Das Schlimme ist, dass Personen oft einfach subjektiv nicht spüren, dass sie zu wenig Schlaf abbekommen wir aber in objektiven Parametern sehr wohl sehen, dass sich Fehler häufen oder die Reaktionsfähigkeit merkbar langsamer wird. Das stimmt gerade bei chronischem Schlafentzug wo Menschen einfach jede Nacht eine halbe Stunde oder Stunde zu wenig schlafen und es sich einfach angewöhnt haben, mit nur 5-6 stunden auszukommen.

Eine Freundin von mir meditiert seit Jahren und ist deshalb nach wenigen Stunden Schlaf ausgeruht. Wie funktioniert das?

Eine gute Frage. Dazu sind mir wissenschaftlich keine Befunde bekannt. Aber wenn ich unter tags natürlich mehr Entspannung und weniger Belastung habe, dann ist auch der Schlafbedarf für die Nacht geringer. Wenn die Meditation direkt vor dem schlafen gehen passiert, kann es auch sein, dass dann das Gehirn einfach entspannter einschläft und daher schneller zu ruhigem und tiefen Schlafen findet. Das sollte man testen. Denn bei übererregten Personen (Hyperarousal) sehen wir, dass der Schlaf eben weniger erholsam empfunden wird und die Personen öfter aufwachen: das wäre der gegenteilige Effekt und der ist wissenschaftlich gut belegt.

Konsum von Schlafmitteln: Was ist wichtig, zu wissen?

Wichtig zu wissen ist, dass diese Medikamente in der Regel für wenige Wochen entwickelt wurden und angewandt werden sollten. Diese Medikamente sedieren oder betäuben das Gehirn und mögen zwar das unangenehme Wachliegen subjektiv ausschalten, aber sie normalisieren den Schlaf eben nicht. Um natürlichen Schlaf zu finden der auch alle seine positiven Effekte entfalten kann,  muss ich wieder lernen „gut zu schlafen“. Hier helfen Angebote wie unsere NUKKUAA App wo es genau darum geht:  über den Schlaf zu lernen, Entspannungsübungen zu machen und Schlafritutale einzuführen oder auch zu verstehen wann ich wie schlafe indem der Schlaf wissenschaftlich valide gemessen und rückgemeldet wird.

Gibt es noch eine wichtige Message, die Du uns MS´lern mitgeben möchtest?

Ich empfehle wie für alle Menschen, mehr Ruhe im Leben als auch im Schlaf zu finden und bewusst daran zu arbeiten. Auch die Ruhe kommt nicht von selbst, und in der Entspannung steckt die Heilung, daher gut Mut und süße Träume…